Numerisches Modell für die operative Versorgung und Rehabilitation nach Frakturen des Beckenrings
Sehbehinderungen, nachlassende Routinen durch geringere Mobilität im Alltag oder gelegentlicher Schwindel führen dazu, dass ältere Menschen häufiger stürzen. Rund die Hälfte solcher Stürze hat eine Verletzung zur Folge, häufig ist dabei der Beckenring betroffen. In einem gemeinsamen Projekt mit dem BG Klinikum Bergmannstrost Halle (gGmbH) will das Fraunhofer-Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen IMWS ein numerisches Modell entwickeln, das sowohl die operative Versorgung als auch der Rehabilitation nach Frakturen des Beckenrings verbessern soll. Durch die damit gesteigerte Versorgungsqualität sollen die Betroffenen schneller wieder mobil sein und der Pflegeaufwand gesenkt werden.
Vor allem Menschen jenseits des Rentenalters sind von Frakturen des Beckenrings betroffen. Das liegt zum einen an der stärker ausgeprägten Fallneigung im höheren Lebensalter, zum anderen an der abnehmenden Knochenqualität. Bei Knochenschwund (Osteoporose) oder nachlassender Knochendichte als Vorstufe dazu (Osteopenie) kann schon ein Sturz aus dem Stand ausreichen, um knöcherne Verletzungen des Beckenrings (Fragilitätsfrakturen) hervorzurufen. Neben Schmerzen kann das auch zur Folge haben, dass die Patientinnen und Patienten bettlägerig werden, was den Pflegeaufwand erhöht und die Mortalität steigern kann.
Bei hochgradiger Osteoporose können Beckenbrüche sogar durch reguläre Belastungen auftreten – ganz ohne Sturz. Von diesen durch den demografischen Wandel immer häufiger auftretenden sogenannten Insuffizienzfrakturen sind vor allem Frauen betroffen. Ursache sind Höhlen innerhalb des Beckens (»alar voids«), die eine deutlich geringere Knochendichte aufweisen und so das gesamte Becken bei Belastung instabil machen.
»Bisher gibt es keinen Konsens darüber, wie altersbedingte Beckenfrakturen bestmöglich chirurgisch behandelt werden. Gleichzeitig altert unsere Gesellschaft rasant und die Zahl der betroffenen Patienten steigt seit Jahren. Wir wollen die chirurgische, therapeutische und pflegerische Versorgung osteoporotischer Beckenbrüche entscheidend verbessern und klinische Standards setzen«, erläutert PD Dr. Thomas Mendel, Unfallchirurg und Leiter des Projektes im Bergmannstrost. Dr. Stefan Schwan, der das Projekt am Fraunhofer IMWS betreut, ergänzt: »Es fehlt Wissen über die Effekte einzelner Operationsmethoden oder Implantate, ebenso wie genaue Kenntnisse über das mechanische Verhalten eines von Osteoporose betroffenen Beckenrings im Zusammenspiel mit den Bänder-, Muskel- und Knocheneigenschaften alter Menschen.« Genau dieses Zusammenspiel wollen die Projektpartner in einem virtuellen Modell abbilden.
»Es gibt bereits einfache numerische Modelle für diese Fragestellung. Diese berücksichtigen aber weder den deutlichen mikrostrukturellen Umbau des Knochens sowie die damit verbundenen, stark veränderten mechanischen Eigenschaften noch die Veränderung des Bandapparats, der die Belastungen in das System des Beckenrings ein- und ausleitet. Beispielsweise befindet sich dort, wo ein Knochen durch Osteoporose abgebaut wurde, immer noch eine Gewebematrix, deren Eigenschaften für das Versagensverhalten des Beckenrings von Bedeutung sind. Auch die Rolle des umgebenden Bandapparats, der Gelenke und der Muskulatur fließt bisher nicht oder zu wenig in die Modelle ein«, erläutert Schwan.
Deshalb kommt im Projekt die Finite-Elemente-Methode (FEM) zum Einsatz, die eine vollständige, dreidimensionale Beschreibung von Knocheneigenschaften und Spannungsfeldern in Knochenstrukturen ermöglicht. In dieses Multiphasenmodell fließen radiologische Daten aus Magnetresonanztomographie (MRT), Computertomographie (CT) und Micro- Computertomographie (µCT) ein, so dass die Geometrie des Knochens ebenso erfasst wird wie seine innere Struktur und die Gestalt des umgebenden Weichgewebes. Diese Datensätze aus dem Klinikum Bergmannstrost verknüpft des Forschungsteam, zu dem auch Rehabilitationsmedizinerinnen und -mediziner sowie Physiotherapeutinnen und -therapeuten gehören, mit experimentellen mikromechanischen Werkstoffmodellen des Fraunhofer IMWS. Mittels im Projekt zu entwickelnder Algorithmen soll das Modell dann in der Lage sein, die Materialeigenschaften (Elastizitätsmodul, Dichte) zu benennen. So lässt sich beispielsweise die Belastung beim Gehen für den Beckenring realistisch simulieren und die Entstehung und Ausbreitung von Brüchen nachvollziehen.
Das entstehende Modell soll in Form einer App zur Verfügung stehen, die basierend auf den Daten geeignete Operationsmethoden für eine optimale Frakturversorgung, passende Implantate und angepasste Rehabilitationsstrategien möglich macht. »Wenn wir erfolgreich sind, können wir eine innovative und integrative Behandlung auf höchstem Niveau anbieten, und zwar von der Unfallstelle bis zur Rehabilitation«, fasst Schwan die Ziele zusammen. »Das trägt auch dazu bei, die Selbstständigkeit älterer Menschen zu erhalten und ihre mittelfristige Überlebenswahrscheinlichkeit nach einer Beckenring-Fraktur zu verbessern.«